Ja, die Welt wird uneindeutiger, unübersichtlicher und komplexer. VUCA nennen Fachleute diesen Zustand, abgeleitet von den englischen Begriffen volatility, uncertainty, complexity und ambiguity. Diese wachsende Komplexität und Vielfalt unserer Gesellschaft spüren wir zunehmend in allen Lebensbereichen. Steven Vertovecs Buch „Superdiversität“ bietet in diesem Kontext eine ebenso gute Orientierung wie umfassende Analyse dieser vielschichtigen Veränderungen. Nun liegt es an Regionalentwicklung, Tourismusmanagement und Wirtschaftsförderungen, diese Erkenntnisse in ihre Arbeit einfließen zu lassen und in neue Ansätze und Angebote zu übersetzen.
Doch was genau verbirgt sich hinter dem Begriff Superdiversität, und wie beeinflusst er zukünftig Regionalentwicklung und Tourismusbranche?
Definition und Bedeutung von Superdiversität
Superdiversität, ein Begriff, der von Steven Vertovec bereits 2007 geprägt wurde, beschreibt eine neue Form der gesellschaftlichen Vielfalt, die weit über traditionelle, isoliert betrachtete Kategorien wie Ethnizität und Nationalität hinausgeht. Diese Diversität umfasst eine Vielzahl von Faktoren wie
- Herkunft,
- Migrationsstatus,
- Sprachkenntnisse,
- Geschlecht,
- Alter und
- sozioökonomischen Hintergrund,
die zusammen eine komplexe soziale Struktur formen. Dazu Migrationsbewegungen, die in viel kürzeren Takten erfolgen, also die Abfolge des sprichwörtlichen „Kommens und Gehens“.
Auswirkungen auf die Tourismusbranche
Im Tourismus wird der Einfluss von Superdiversität durchaus deutlich. Die Fragestellungen dahinter:
- Wie schaffen wir (neuen oder anderen) Zusammenhalt angesichts der großen Vielfalt auf kleinem Raum und einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft?
- Wie gehen wir zukünftig mit Schlüsselbegriffen wie „regionaler Authentizität“ oder „typischen Erlebnissen“ um, wenn diese im Kern auf eine längst nicht mehr existente, ja konstruierte Homogenität vor Ort abzielen?
Ohne Zweifel: Die Bedürfnisse und Erwartungen der Reisenden sind vielfältiger denn je, was sowohl Herausforderungen als auch Chancen für Destinationen und Anbieter im Tourismus mit sich bringt. Das bedeutet auch, dass nun geklärt werden sollte, wie zukünftig die Interaktion in Destinationen gestaltet und verbessert werden kann. Denn – es ist gerade schon angeklungen: Die Zeiten vermeintlich homogener, klar voneinander abgegrenzter Gruppen – hier die „Einheimischen“, dort die „Touristen“ – sind längst vorbei.
Anpassung an vielfältige Bedürfnisse
Gerade in der Angebotsgestaltung, bei der Inszenierung von Erlebnissen und Erlebnisräumen braucht es neue Ansätze, um den unterschiedlichen Erwartungen der Menschen in einer Region gerecht zu werden und Anknüpfungspunkte für echten Dialog und fortwährende Interaktion zu ermöglichen.
Superdiversität erfordert dann auch angepasste Marketingstrategien. Erfolgreiches Regional- und Tourismusmarketing muss die Vielfalt aller Zielgruppen und Beteiligten berücksichtigen, echten Dialog ermöglichen und maßgeschneiderte, beispielsweise kultur- und sprachspezifische Kampagnen entwickeln. Wie so oft wird diese Herausforderung nicht nur durch geeignete digitale Plattformen gelöst, sondern vor allem auch mit Hilfe realer, gut moderierter Austauschmöglichkeiten und sog. dritter Orte für Menschen verschiedener Herkunft, Aufenthaltsdauer und -motiven in einer Region.
Herausforderungen und Potenziale
Besonders herausfordernd ist in diesem Kontext sicher die Frage: Wer gehört eigentlich dazu in einer Region oder Destination? Rollen, Aufgaben und Selbstverständnisse werden hinterfragt und müssen vor Ort in einem strukturierten, breit angelegten Prozess geklärt (oder neu gefunden!) werden. Das bietet Chancen, ein neues Miteinander zu initiieren – und steigert auf lange Sicht Lebensqualität in und die Attraktivität einer Gegend als Ganzes.
Fazit
Das Buch „Superdiversität“ liefert wertvolle Einblicke und Analysen, die für die zukünftige Regionalentwicklung, für Stadtmarketing und Tourismusmanagement von großer Bedeutung sind. Schließlich zeigt es, dass Superdiversität weit mehr ist als ein theoretisches Konzept – sie beschreibt eine andauernde, tiefgreifende Veränderung, die den Tourismus in vielerlei Hinsicht beeinflusst.
Jetzt braucht es innovative Ansätze und v.a. endlich eine breite Diskussion dieses Themas. Nur so werden wir das große Potenzial der Superdiversität ausschöpfen können.
Titelbild: Aarón Blanco Tejedor / unsplash.com (Link)
Coverfoto: Suhrkamp Verlag (Link)